Über das Lösen mathematischer Aufgaben

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PhyMaLehrer Auf diesen Beitrag antworten »
Über das Lösen mathematischer Aufgaben
Wie ich gestern bei meinen Bemerkungen zu (nicht vorhandenen) eigenen Überlegungen bezüglich der Lösung einer Aufgabe angekündigt hatte, habe ich heute eine knappe halbe Stunde im Keller gekramt und meine Uni-Aufzeichnungen Analysis von 1979 gefunden. In einer der Vorlesungen ließ sich der Dozent über die "Lösung mathematischer Aufgaben" aus und ich möchte diese literarisch wertvollen Gedanken hier der Öffentlichkeit zur Kenntnis geben.
(Da es sich um eine Vorlesung handelte, habe ich es hier unter "Hochschulmathematik " einsortiert. Vielleicht muß der Beitrag verschoben werden...)

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Über das Lösen mathematischer Aufgaben

Es gibt kein Patentrezept dafür! Trotzdem gibt es so etwas wie einen charakteristischen Ablaufplan in mehreren Etappen:

1. Etappe: Materialzusammenstellung
Am Anfang macht man sich mit der Aufgabe vertraut und stellt eine "Umgebung" von Kenntnissen und Informationsmaterial bereit. Man vergegenwärtigt sich die Definitionen der in der Aufgabe vorkommenden Begriffe und stellt schon bewiesene Sätze sowie eventuell Axiome, in denen diese Begriffe vorkommen, zusammen. Weiterhin wird man sich für ähnliche und schon gelöste Aufgaben interessieren (das können z. B. Spezialfälle der vorgelegten Aufgabe sein), um eine Lösungsidee zu erhalten.
Genau so, wie kein Haus aus zu wenig Baumaterial gebaut werden kann, wird auch die Aufgabe dann nicht gelöst werden, wenn zu wenig mathematisches Material bereitgestellt wird.

2. Etappe: Probierphase
Man nimmt Papier und Bleistift zur Hand und fängt an zu schreiben: Man schreibt äquivalente Aussagen zu den in der Aufgabe vorkommenden Aussagen auf oder zumindest solche, die aus diesen folgen. Oftmals erreicht man schon durch solches "Umformulieren" der im mathematischen Material enthaltenen Aussagen und der Zielaussage (Behauptung bei Beweisaufgaben), daß die Umrisse eines Lösungsweges sichtbar werden. Auch geometrische Veranschaulichungen der in der Aufgabe vorkommenden Aussagen führen oft zu weiteren Einsichten. Schließlich spielen die Erfahrungen, die man beim Lösen mathematischer Aufgaben gesammelt hat, eine große Rolle, um einen Lösungsweg zu finden.Die Probierphase kann bei schwierigeren Aufgaben länger als eine Stunde dauern.

3. Etappe: Ideephase
Die Probierphase ist dann beendet, wenn man eine Idee hat, wie die Aufgabe ganz oder zumindest teilweise gelöst werden kann, wenn "ein Licht aufgeht". Man muß jetzt die Lösungsidee festhalten (etwa so, daß man die einzelnen Lösungsschritte in der richtigen Reihenfolge durch Pfeile verbunden aufschreibt) und sie nochmals durchdenken. Dazu ist oftmals eine angestrengte geistige Arbeit notwendig.
Die Lösungsidee bleibt in der Regel dann aus, wenn man sich erst "5 min vor 12" mit der Aufgabe befaßt, wenn man also nicht die nötige Ruhe und Zeit mitbringt. Man muß mindestens so viel Zeit für das Lösen der Aufgabe aufbringen, daß man sich die Aufgabe auch am nächsten Tag noch einmal ansehen bzw. überlegen kann.
Eine Diskussion in der Studiengruppe über die Aufgabe ist erst dann angebracht, wenn alle Mitglieder dieser Gruppe mindestens am Ende der Probierphase sind.

4. Etappe: exakte Ausführung der Lösung
Die gewonnenen Einsichten müssen nun in die Gestalt einer objektiv nachprüfbaren Aufgabenlösung gebracht werden. In richtiger Reihenfolge durchgeführte gültige logische Schlüsse müssen von den speziellen Voraussetzungen der Aufgabe und schon bewiesenen Sätzen sowie Axiomen ausgehend schließlich zu der aufgestellten Behauptung führen (direkte Aufgabenlösung), bzw. man erhält einen Widerspruch (zu einem bewiesenen Satz oder einer Voraussetzung oder einen "rein logischen" Widerspruch), wenn man die negierte Behauptung zusätzlich mit als Voraussetzung aufnimmt (indirekte Aufgabenlösung).
Man kann jetzt auch leicht nachprüfen, ob alle speziellen Voraussetzungen auch wirklich verwendet worden sind. Falls mindestens eine davon nicht verwendet worden ist, kann die Aufgabenstellung verallgemeinert werden (indem die nicht benötigte Voraussetzung weggelassen wird).


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So weit unser damaliger Dozent.

Es folgten noch weitere Ausführungen zu Beweisen, Aussagen und Folgerungen, aber das würde jetzt zu weit führen.

Ich habe einmal nachgesehen, ob ich den Dozenten im Internet finde. Und tatsächlich, er hat seine Arbeitsstelle gewechselt und ist jetzt Professor: Prof. Dr. Karl-Udo Jahn.
Ich habe ihn ja seit damals nie wieder gesehen, aber irgendwie erkenne ich ihn wieder!

Und jetzt bin ich richtig ein bißchen nostalgisch gestimmt... Tränen
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

Der Titel ist genau so schön wie der Inhalt zeitlos wahr ist. Danke Freude
Würde jeder Studienanfänger dies zur Kenntnis nehmen und sich danach richten, wäre zweifellos viel Frust und Leid vermeidbar.
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