Gibt es die reellen Zahlen?

Neue Frage »

manuel459 Auf diesen Beitrag antworten »
Gibt es die reellen Zahlen?
Hallo,

es stellen sich mir folgende Fragen:

1) Gibt es natürliche Zahlen?
2) Gibt es die Menge der natürlichen Zahlen?
3) Gibt es reelle Zahlen?
4) Gibt es die Menge der reellen Zahlen?

Die zweite Frage kann man meines Wissens mithilfe des Unendlichkeitsaxioms und mithilfe des Aussonderungsaxioms von Zermelo-Fränkel beantworten. Stimmt das?

Dass die Menge der reellen Zahlen existiert, kann man dann dadurch begründen, dass man sie (zum Beispiel über den Weg konstruiert).
Dabei bin ich mir aber nicht sicher. Ich habe einmal folgendes gehört: "Nur weil man einen Körper konstruieren kann, existiert er nicht". Was hat es damit auf sich?

Die anderen Fragen sind schwer zu beantworten. Kann mich da jemand erleuchten?

Danke und LG
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

1) Richard Dedekind hat 1887 in "Was sind und was sollen die Zahlen?" die natürlichen Zahlen axiomatisch definiert. Wenn es eine unendliche Menge gibt, dann enthält sie eine zu den natürlichen Zahlen isomorphe Teilmenge. Also gibt es natürliche Zahlen.
2) "Die" Menge der natürlichen gibt es eher nicht, denn alle isomorphen Strukturen betrachten wir als Exemplare der natürlichen Zahlen.
3) Richard Dedekind (wer sonst?) hat 1872 in "Stetigkeit und Irrationale Zahlen" die reellen Zahlen als (Dedekindsche) Schnitte von rationalen Zahlen definiert. Also gibt es reelle Zahlen.
4) Wie 2)

Zur Zusatzfrage: Wenn man eine mathematische Struktur widerspruchsfrei definieren oder konstruieren kann, dann existiert sie. Was denn sonst ? Wenn wir die Existenz von Zahlen bezweifeln können wir mit gleichem Recht unsere eigene Existenz oder die Existenz des Seins bezweifeln, doch A.J.Ayer zeigt uns in "The Problem of Knowledge" (1956), dass Skeptizismus keine logisch sinnvolle Grundhaltung der Philosophie sein kann.
manuel459 Auf diesen Beitrag antworten »

Vielen Dank für die Antwort! Dazu: Würden "natürliche Zahlen" existieren, falls es keine Menge der natürlichen Zahlen gibt (wenn ich das jetzt als stellvertretend für alle isomorphen Strukturen schreibe) ?

LG
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

Würden Menschen existieren, wenn es keine Menschheit gäbe ?
manuel459 Auf diesen Beitrag antworten »

Die Frage ist doch, ob mit "Zahl" bereits dazugesagt wird (implizit), wie man damit rechnet. Dann gibt es Zahlen nämlich erst nach der Menge. Ansonsten ist es umgekehrt. Oder?
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

Natürliche Zahlen werden als Objekte definiert. Man braucht die injektive Nachfolgerfunktion, die jeder natürliichen Zahl eine natürliche Zahl zuordnet. Es gibt eine natürliche Zahl, die nicht Nachfolger einer natürlichen Zahl ist. Es gilt das Prinzip der vollständigen Induktion.
Früher ging das ganz ohne Mengenlehre, in der modernen Mathematik macht man das aber nicht mehr. Was ist ein "Objekt", wenn nicht ein Element einer Menge ? Was ist eine "Funktion" ohne Definitionsmenge, Zielmenge und Graph ?
Wie man mit natürlichen Zahlen rechnet macht die natürlichen Zahlen zu einer algebraischen Struktur. Auch das lässt sich sehr bequem in der Sprache der Mengenlehre ausdrücken, geht aber auch ohne, wenn man weiß, was eine "Verknüpfung" ist.

Es gab schon vor Georg Cantor Mathematik, nach ihm wurde sie auf mengentheoretischer Grundlage neu aufgebaut und ist einfacher zu beschreiben, einfacher zu verstehen, transparenter und leichter zu erweitern als ohne Mengenlehre. Notwendig ist Mengenlehre nicht, aber praktisch.
Dedekind hatte sie noch nicht in moderner Form, hat sie aber soweit entwickelt, dass ihm damit die Definition der natürlichen Zahlen wesentlich besser, durchsichtiger und eleganter gelang als seinen Vorgängern und Zeitgenossen. David Hilbert hat sie zu Recht geschätzt, gelobt und verteidigt.
 
 
Finn_ Auf diesen Beitrag antworten »

Mir stellt sich da die Frage, was Zahl eigentlich bedeutet, bzw. ob dieser Begriff für sich allein stehen kann.

Komplexe Zahlen sind Zahlen. Der Körper der komplexen Zahlen lässt sich via

in den Matrizenring einbetten. Sind dann auch alle Matrizen Zahlen? Wenn ja, dann sind wohl auch alle linearen Operatoren Zahlen.

Man betrachte nun den Kompositionsoperator für , wobei ein Ring ist. Dieser Operator ist linear und durch eine beliebige Abbildung bestimmt. Die Multiplikation von Kompositionsoperatoren entspricht der Verkettung der Abbildungen.

Jetzt lassen sich also schon beliebige Abbildungen als Zahlen betrachten.
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

Aus heutiger Sicht sind Zahlen Elemente von Zahlkörpern, genau so wie Vektoren Elemente von Vektorräumen sind. Jede zunächst einfacher erscheinende Definition von Objekten ist aus der Sicht eines mathematischen Strukturalisten "möglich aber sinnlos", wie Loriot sagte.

Diese Sichtweise scheint mit der von Physikern verträglich zu sein. Ernst Schmutzer "Grundlagen der theoretischen Physik (mit einem Grundriß der Mathematik für Physiker) in zwei Teilen", VEB Verlag der Wissenschaften, 1989 schreibt in 1.12 "Tensoren"
"Der zugrunde gelegte n-dimensionale Raum wird durch die Einführung der sogenannten geometrischen Objekte (im wesentlichen Tensoren und Spinoren) mit Inhalt ausgestattet. An einem geometrischen Objekt hat man grundsätzlich zweierlei Dinge klar voneinander zu unterscheiden, nämlich
1. den durch das Grundsymbol bestimmten algebraischen Charakter, der sich in der algebraischen Axiomatik, also in den Rechenregeln ausdrückt (...);
2. den Transformationscharakter, der durch die transformatorische Axiomatik festgelegt wird. Der Transformationscharakter eines geometrischen Objekts drückt sich in seinem Indexbild (...) aus, das Skalaren, Vektoren, dyadischen Produkten, Matrizen usw. anhaften kann."

So kann der Physiker die moderne Algebra zusammen mit der älteren Indexschreibweise, z.B. mit der Einsteinschen Summenkonvention, anwenden. Es spricht m.E. nichts dagegen, die Objekte selbst als existierend zu behaupten, man hat sie stets zur Verfügung und kann algebraisch und rechnerisch mit ihnen umgehen. Was sie ontologisch sind, darüber mögen die Philosophen nachdenken, den Mathematikern genügt ihre Existenz und den Physikern ihre Handhabbarkeit.
Finn_ Auf diesen Beitrag antworten »

Zitat:
Original von Elvis
Aus heutiger Sicht sind Zahlen Elemente von Zahlkörpern, [...]

Die Quaternionen sind gemeinhin als Zahlen beschrieben, bilden aber keinen Körper, nur einen Schiefkörper.

In Encyclopedia of Mathematics steht »A hypercomplex number, geometrically realizable in four-dimensional space. The system of quaternions was put forward in 1843 by W.R. Hamilton (1805–1865). Quaternions were historically the first example of a hypercomplex system, arising from attempts to find a generalization of complex numbers.«

In Wikipedia steht »Die Quaternionen (Singular: die Quaternion, von lateinisch quaternio, -ionis f. „Vierheit“) sind ein Zahlbereich, der den Zahlbereich der reellen Zahlen erweitert – ähnlich den komplexen Zahlen und über diese hinaus.«
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

Ja, man kann den Zahlbegriff noch weiter fassen. Meistens vergesse ich auch Ordinalzahlen und Kardinalzahlen zu erwähnen. Wenn man sich hauptsächlich mit Zahlentheorie beschäftigt, genügen Zahlkörper und Funktionenkörper und alles was damit zusammenhängt. Deshalb sehe ich Algebren nicht als Zahlbereiche an, obwohl sie nicht weniger interessant sind. (Max Deuring steht schon auf meiner ToDo-Liste.)
Leopold Auf diesen Beitrag antworten »

Schon 1984 hat Herbert Grönemeyer die Problematik angesprochen: Wann ist eine Zahl eine Zahl?
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

Ganz sicher ist eine Zahl zum Zählen da, das gilt für natürliche Zahlen, Ordinalzahlen und Kardinalzahlen. Man kann auch mit ihr rechnen, doch nicht alles, womit man rechnen kann, ist eine Zahl.
"Können Sie rechnen ?" / "Ja." / "Dann rechnen Sie mit dem Schlimmsten !"
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

Wenn wir ganz konkret werden wollen, dann machen wir es so wie in der Schule. Die reellen Zahlen sind die Dezimalzahlen, wobei die eindeutige Darstellung garantiert. Die natürlichen Zahlen sind darin enthalten als positive ganze Dezimalzahlen. In diesem Modell existieren die reellen und natürlichen Zahlen, und die Modelle sind Mengen, also existieren diese ebenfalls. Jede andere Konstruktion der natürlichen und reellen Zahlen ist erlaubt und ergibt isomorphe Strukturen.

Wollen wir das wirklich so machen ? Geht dabei nicht der Fortschritt verloren, und die höhere Einsicht, die uns seit Cantors Arbeiten "Über unendliche, lineare Punktmannigfaltigkeiten" (1872 ?),(1879–1884) verfügbar ist ?
Dopap Auf diesen Beitrag antworten »

Zitat:
Original von Leopold
Schon 1984 hat Herbert Grönemeyer die Problematik angesprochen: Wann ist eine Zahl eine Zahl?


Jedenfalls nicht im üblichen Sprachgebrauch wie
  • Zahlen lügen nicht
  • genaue Zahlen liegen leider nicht vor
  • Zahlen Sie bar ? Augenzwinkern
G140220 Auf diesen Beitrag antworten »

Bekanntlich gilt der Satz:
Es gibt nichts, was es nicht gibt. Also gibt es auch Zahlen und Mengen von Zahlen. q.e.d. Augenzwinkern
So einfach kann es sein mit der Beweiserei! Big Laugh
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

Einfach ja, aber einfach falsch. Augenzwinkern Wäre der Satz "Es gibt nichts, was es nicht gibt." wahr, und könnte man so schließen, dann gäbe es die Menge der Kardinalzahlen. Die gibt es nicht, also stimmt hier etwas nicht. Ich nehme an, dass der Satz "Es gibt nichts, was es nicht gibt." keine Aussage, also weder wahr noch falsch, sondern unsinnig ist. Es handelt sich vermutlich um ein sprachliches Paradoxon.
G14020 Auf diesen Beitrag antworten »

Es gibt immerhin den Begriff "Menge der Kardinalzahlen".
Es gibt auch Einhörner - in der Fantasie oder ein Königreich Bayern - in der Wunschvorstellung
der Königstreuen. Augenzwinkern
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

Wenn alles "existiert", wird der Begriff "existiert" sinnlos. Damit wird die Frage von manuel 459 sinnlos, das ist sie m.E. nicht. Der Begriff "existiert" hat in der Sprache, in der Philosophie, in der Naturwissenschaft und in der Mathematik wesentliche Bedeutung.
Elvis Auf diesen Beitrag antworten »

Zur Nichtexistenz fiktiver Einhörner siehe A.J.Ayer "Language, Truth and Logic" (1936) Chapter I "The Elimination of Metaphysics".
Zu Fragen der "Existenz als Prädikat" siehe auch hier: https://www.jstor.org/stable/20482066?seq=1 und insbesondere Kant "Kritik der reinen Vernunft" .
Neue Frage »
Antworten »



Verwandte Themen

Die Beliebtesten »
Die Größten »
Die Neuesten »