Omikron in UK

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Omikron in UK
Die UK Health Security Agency vermeldet für Großbritannien folgende Zahlen zu gemeldeten Fällen von Omikron, von 134 am 3. Dezember, und neuerdings auf Twitter von 160 am 4. Dezember bis 3137 am 12. Dezember:

134, 160, 246, 336, 437, 568, 817, 1265, 1898, 3137.

Die logarithmierten Werte liegen fast auf einer Gerade, ein exponentielles Wachstum. Lineare Regression resultiert in der folgenden Kurve. Ist der nullte Dezember, also der 30. November, dann ist die Ausbreitung von Omikron in UK zurzeit beschrieben durch

mit und

Rechnen wir mit und Liefe das so weiter, wäre in zwei Monaten die Weltbevölkerung durchseucht. Ergo müsste es in UK in absehbarer Zeit einen Lockdown geben. Nehmen wir an, der kommt erst wenn es weh tut. Am 26. Dezember wären es über 100000 Fälle pro Tag. Sagen wir mal, der Lockdown wird spätestens richtig durchgezogen, wenn es die Fallzahl 200000 pro Tag gibt, das sind bei 20% Ungeimpften und Fallsterblichkeit 0,5% ca. 200 Sterbefälle pro Tag, die sich sonst (ganz ohne Maßnahmen) alle zwei Tage verdoppeln würden. Dies ist der Anstieg an der Wendestelle . Im logistischen Modell gilt



wobei die Wachstumskonstante der Exponentialfunktion ist. Resultat ist eine Grenze von Fällen. Die logistische Funktion ist



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Blau die logistische Funktion, grün das Zehnfache der Ableitung, magenta die Exponentialfunktion.

Meine Schätzung ist, dass ein Lockdown im späten Dezember bis Ende Februar in Ländern mit 20% bis 30% Ungeimpften kommen müsste. Die große Unbekannte ist die Verdopplungszeit der gemeldeten Fälle in Deutschland, das sehen wir erst in ein bis zwei Wochen. Außerdem stellt sich die Frage, wie die sich durchs Boostern verringert.

Das waren nur grobe Schätzungen. Man müsste nun Spitzfindigkeiten beachten, die das nach unten korrigieren, und dann aber wieder Dunkelziffern. Ich will hier nicht tiefer in den statistischen Kaninchenbau gehen. Wer es genauer wissen will, sollte schauen, wie die aktuellen Prognose-Szenarien der Modellierer ausschauen. Das wäre die nächstbeste Recherche.

Auch Hendrik Streeck konstatiert in Merkur*, Zitat:

»Ein Lockdown ist derzeit nicht zielführend, aber ich würde ihn für die Zukunft auch nicht ausschließen wollen. Man sollte diesen Schritt als eine Art Notfall-Reißleine in der Hinterhand behalten, falls das Gesundheitssystem im Laufe des Winters tatsächlich zu kollabieren droht.«

Streeck vergleicht die Booster-Impfstoffe und spricht über Weihnachts-Lockdown und Minister Lauterbach«. In: Merkur.de (13. Dez. 2021).
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Es stellt sich die Frage, wie groß die Basisreproduktionszahl von Omikron ist. Man kann sie mit der von Marc Lipsitch beschriebenen Methodik abschätzen, bei der die Euler-Lotka-Gleichung auf die Epidemiologie übertragen wird.

Die Generationszeit von Covid bezüglich Wildtyp wurde abgeschätzt zu ca. 5 Tagen. Das ist der Erwartungswert der zeitlichen Verteilung der Wahrscheinlichkeit der Infektiosität, die näherungsweise einer Gammaverteilung folgen soll. Man kann die Varianz etwa zu 2 abschätzen, weil die Latenzzeit zwei bis drei Tage betragen soll. Die Parameter sind entsprechend





Sei die Dichte der Gammaverteilung zu diesen Parametern. Laut der Euler-Lotka-Gleichung



können wir nun die Basisreproduktionszahl mit der Wachstumskonstante bzw. Verdopplungszeit ermitteln. Hierbei ist das Infektionsalter, das ist die seit der Infektion vergangene Zeit.

Ich hab mir noch einmal die Daten zum Ausbruch in Deutschland Anfang 2020 angesehen. Die Verdopplungszeit lag erst bei zwei und ist dann immer weiter angestiegen, wobei sie einen großen Zeitraum von drei auf fünf angestiegen ist. Danach ist sie im ersten Soft-Lockdown hochgeschnellt.

Mit der Gleichung ermittelt man bezüglich Verdopplungszeit von drei Tagen und bezüglich Verdopplungszeit von vier Tagen.

Nehmen wir an, bei Omikron besteht näherungsweise die gleiche Verteilung. Den Daten von Gestern (13. Dez.) und Vorgestern (12. Dez.) nach scheint es, als wäre in den logarithmierten Fallzahlen ein Knick drin, bei dem die Verdopplungszeit von zwei auf 1.6 Tage abgesunken ist, was mit dem Durchbruch der Kontaktnachverfolgung zusammenhängen könnte. Sagen wir mal, ohne jegliche Maßnahmen beträgt die tatsächlich 1.6. Man erhält die grobe Abschätzung als Resultat. Auch ist zu bedenken, dass Omikron keine gänzlich immunologisch naive Bevölkerung heimsucht. Der tatsächliche Wert könnte damit bei 8 oder 9 liegen. Zudem ist zu beachten, dass der Wert bei solch geringen Verdopplungszeiten empfindlich von den Parametern der Dichte abhängt.
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Die Sache interessiert mich. Ich will eine Simulation des Verlaufs der Omikron-Welle probieren. Den gestrigen Tag dachte ich nochmals über das allgemeine Epidemie-Modell nach. Dieses enthält sowohl das SIR-Modell und als auch das SEIR-Modell als Spezialfall. Man kann aber auch ein passendes Modell zur Gamma-Verteilung konstruieren. Ausgangspunkt ist die durch die Dichte parametrisierte allgemeine Beschreibung



Hierbei ist der suszeptible Anteil der Bevölkerung relativ zur konstanten Gesamtbevölkerung . Mit ist die Ableitung von nach der Zeit gemeint. Die Euler-Lotka-Gleichung ist ebenfalls ein Spezialfall, bei dem man einsetzt. Näheres steht in meinem Wikipedia-Artikel zum SEIR-Modell und den dort referenzierten Quellen. Viele der Artikel sind Open Access. Die Autoren Fred Brauer, Pauline van den Driessche der Artikel aus Infectious Disease Modelling und Jianhong Wu, ein Chef-Editor dieses Journals, sind die Herausgeber des Buchs Mathematical Epidemiology.

Die allgemeine Gleichung lässt sich auf unterschiedliche Art lösen. Zum Beispiel, indem man aus ihr ein Iterationsverfahren konstruiert. Alternativ ginge die Einführung womit man ein System von Integralgleichungen erhält, das sich per Picard-Iteration lösen lässt, wobei man in jedem Schritt eine Quadratur durchführt und mit den Ergebnissen eine stückweise lineare Interpolation für den nächsten Schritt konstruiert. Obzwar diese Methode einen recht hohen Rechenaufwand benötigt, fällt der Programmieraufwand schön gering aus.

Bei Annäherung der Gamma-Verteilung durch eine Erlang-Verteilung, was bei der beschriebenen Verteilung zu Covid recht präzise ist, reduziert sich die Gleichung aber zu einem System von Differentialgleichungen. Ich will zeigen, wie man das bewerkstelligt. Bei erhält man das klassische SIR-Modell. Betrachten wir stattdessen die allgemeinere Erlang-Verteilung mit Dichte



Für diese gilt



Definiert man nun



dann muss gemäß der allgemeinen Gleichung gelten. Für verschwindet die Erlang-Verteilung bei womit man mittels partieller Integration




erhält. Wird diese Gleichung auf beiden Seiten abgeleitet, findet sich



Für wird die Erlang-Verteilung zur Exponentialverteilung, die bei den Wert hat. Man bekommt per partieller Integration



Wird diese Gleichung auf beiden Seiten abgeleitet, findet sich



Es manifestiert sich das System





Substituiert man und kürzt mit ab, nimmt es die Form





an. Dieses System von Differentialgleichungen reduziert sich im speziellen Fall zum System des SIR-Modells.

Die Reproduktionszahl machen wir von der Zeit abhängig. Sie kann wie beschrieben aus der Verdopplungszeit ermittelt werden und sollte absinken, sobald Maßnahmen zur Kontaktreduzierung getroffen werden.

Die Anfangswerte ermittelt man gemäß der Definition der wobei für die Funktion die exponentielle Wachstumskurve aus der Regression eingesetzt wird.
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Nachtrag zur Verteilung. Eine genauere Bezeichnung ist Verteilung der Generationszeit, englisch generation interval distribution. Studien haben sie abgeschätzt als Gamma-Verteilung mit einem Erwartungswert von 5 Tagen und einer Standardabweichung von 1.7 Tagen. Sie lässt sich gut durch die Erlang-Verteilung mit Parametern und nähern.

Simulation. Der Verlauf der gemeldeten Neuinzidenz pro Tag gemäß einer Rechnung zu einer Verdopplungszeit von 2, 3, 4 Tagen. Naive Rechnung mit konstanter Basisreproduktionszahl, keine Maßnahmen zur Kontaktreduzierung berücksichtigt, obzwar eine mögliche Deutung geringerer Verdopplungszeit darin liegt. Die grauen Kurven sind die Exponentialfunktionen. Annahmen sind 50% suszeptible Bevölkerung und 50% Meldungen auf die wahre Fallzahl, also 50% Dunkelziffer.

Blau der Verlauf im konstruierten SI9R-Modell, magenta der Verlauf im klassischen SEIR-Modell mit Latenzzeit von 3.3 Tagen, gelb der Verlauf im klassischen SIR-Modell.

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Update. Mir ist das Versäumnis unterlaufen, die Startpunkte nicht in die aktuellen Fallzahlen einzuhängen, wodurch die Simulation bei den geringeren Verdopplungszeiten unnötigerweise ungenau wird. Die von der UK Health Security Agency vermeldeten Fallzahlen zu Omikron von 2 am 27. Nov., 32 am 1. Dez. bis 24968 am 18. Dez. sind:

2, 3, 11, 22, 32, 42, 134, 160, 246, 336, 437, 568, 817, 1265, 1898, 3137, 4713, 5346, 10017, 11708, 14909, 24968.

Nach wie vor liegt eine Verdopplungszeit von zwei Tagen vor. Es folgt die korrigierte Simulation mit Startpunkt am 18. Dezember.

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Als nächstes der Verlauf bezüglich Verdopplungszeit von zwei Tagen bei Maßnahmen zur Kontaktreduzierung. Angenommenes Abfallen der Basisreproduktionszahl (vom 20. bis 30. Dez.) auf 75% und 50%. Stellt man sich einen linearen Zusammenhang vor, was nicht stimmen muss, entspricht dies der Reduktion der gesellschaftlichen Kontakte auf 75% und 50%.

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Edit 1: Fälschlich war die kumulierte Zahl anstelle der Neuinzidenz als Anfangswert eingesetzt. Die Kurven haben sich mit der Berichtigung um ca. vier bis fünf Tage verschoben.

Edit 2: Beim SEIR-Modell den mathematisch korrekten Anfangswert für den Anteil der Exponierten eingesetzt. Die Kurven in Magenta haben sich mit der Berichtigung ein klein wenig verändert.
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Berechneter Verlauf für Deutschland. Hinzugefügt ist der Verlauf im SECIR-Modell von Michael Meyer-Hermann und Tanmay Mitra in der Version vom April 2020 [1] mit einer von mir vorgenommenen Anpassung der Parameter an die aktuelle Situation. Eine Verfeinerung dieses Modells wurde in BMC Medicine publiziert [2].

[attach]54208[/attach]

[1] Sahamoddin Khailaie, Tanmay Mitra, Arnab Bandyopadhyay, Michael Meyer-Hermann u. a.: Estimate of the development of the epidemic reproduction number Rt from Coronavirus SARS-CoV-2 case data and implications for political measures based on prognostics. medRxiv, 7. April 2020.

[2] Sahamoddin Khailaie, Tanmay Mitra, Arnab Bandyopadhyay, Michael Meyer-Hermann u. a.: Development of the reproduction number from coronavirus SARS-CoV-2 case data in Germany and implications for political measures. In: BMC Medicine, Band 19, Artikel 32, 2021. https://doi.org/10.1186/s12916-020-01884-4.
 
 
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Inzwischen sind professionelle Modellierungen zum Verlauf von Omikron in Deutschland eingetrudelt. Am 19. Dezember ist beim ZDF ein Artikel [3] über eine Rechnung von Kristan Schneider erschienen, der ein SEIR-Multistadien-Modell weiterentwickelt hat.[4] Am 23. Dezember kam zu seinen Berechnungen ein Video [5] in der Tagesschau. Zuletzt ist am 22. Dezember eine Arbeit [6] des Teams um Viola Priesemann erschienen, in der ebenfalls eine fortgeschrittene Weiterentwicklung des SEIR-Modells genutzt wird. Eine kurze Erklärung zu den Ergebnissen hat sie auf Twitter [7] gegeben, in der sie auf eine Pressemitteilung [8] der Max-Planck-Gesellschaft verweist. Ein kurzer Bericht über ihre Arbeit ist beim RND [9] zu finden, zuvor gab es einen Bericht beim Spiegel. Ein Gespräch mit ihr ist kürzlich im Podcast Die Idee vom NDR [10] erschienen.

Laut den beiden Modellierungen dürfte der Peak der Omikron-Welle erst im März kommen. Die Welle könnte je nach Verhalten der Bevölkerung weniger stark ausfallen als befürchtet. Priesemann stellt dabei fest, dass das Boostern deutlich schneller vonstatten geht als Omikron-Inzidenz auftritt, obgleich sich Omikron so schnell verbreitet.

Das wäre einerseits gut, weil mehr Zeit zum Boostern zur Verfügung steht. Andererseits ziehen sich die aufkeimende Welle und die notwendigen Kontakteinschränkungen dann wohl über das gesamte Frühjahr 2022. Ich fürchte, auf die Bevölkerung kommt da nochmals eine Belastungsprobe zu.

[3] Modellrechnung zur Viruswelle - Die Omikron-Szenarien. In: ZDF.de, 19. Dezember 2021.

[4] Kristan A. Schneider u. a.: The COVID-19 pandemic preparedness simulation tool: CovidSIM. In: BMC Infectious Diseases, Band 20, Artikel 859, 2020. https://doi.org/10.1186/s12879-020-05566-7.

[5] Schwerpunkt: Mathematiker berechnen Omikron-Entwicklung per modellierter Szenarien. Tagesschau, 23. Dezember 2021, 11:26.

[6] Viola Priesemann u. a.: Interplay between risk perception, behaviour, and COVID-19 spread. arXiv, 22. Dezember 2021.

[7] Viola Priesemann: Wie werden sich die #Omikron-Fallzahlen entwickeln, und wie sieht die entsprechende Krankenhausbelastung aus?. Twitter, 23. Dezember 2021.

[8] Mit dem richtigen Maß gegen Omikron. Max-Planck-Gesellschaft, 23. Dezember 2021.

[9] Modellrechnung zu Omikron: Im Frühjahr mehr als 200.000 tägliche Neuinfektionen möglich. Redaktionsnetzwerk Deutschland, 23. Dezember 2021.

[10] Physikerin und Modelliererin Viola Priesemann. In: Die Idee, Folge 23, NDR, 20. Dezember 2021.
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